„Ich werde bewundert, aber nicht geliebt“

 

Es ist Mitte November 2015. Zu dritt sitzen wir am Mittagstisch, mein Mann, mein Bruder Hans und ich. Spaghetti dampfen in den Tellern. In den Gläsern leuchtet der dunkelrote Wein. Hans bricht die momentane Stille mit den Worten: “Ich habe mich entschieden, ich will durch Fasten sterben.“ Plötzlich steht dieser ICH-WILL-SATZ im Raum. Er prägt mit Wucht mein Leben in den folgenden Monaten. Spontan  reagieren mein Mann und ich, indem wir Hans lichtvolle Momente in seinem Leben in Erinnerung rufen. Doch dem Leben, mit seiner Lust, seinen Versprechungen und seinen Verheissungen gibt er keinen Zutritt mehr. 


Wir wussten von seinem schwierigen Lebenswandel, von seinen körperlichen, vom Alter geprägten Defiziten. Die heissen Sommer deprimierten ihn. Zweimal musste er in die psychiatrische Klinik. Auch wussten wir von seinem Gang zu Exit. Er war zu gesund für diese Institution. Sein jüngerer, ihn dahin begleitender Bruder, sagte ihm auf der Heimreise: „Vielleicht ist das eine Einladung, nochmals zur Welt zu kommen.“ 


Hans ist sanfter, verzeihlich. 


Trotzdem besteht für mich kein Zweifel, Hans wird bald sterben. Seine ganze Energie bündelt sich im eisernen Willen, diese Welt zu verlassen.

Es ist, als sässen sich Todestrieb und Lebenstrieb gegenüber, hier und jetzt in meinem Alltag. Dieses Gespräch um Leben und Tod markiert Plötzlichkeit. Immer kommt der Tod plötzlich, auch wenn er uns durchs Leben begleitet.

Mein Bruder hat Jahrgang 1940, er ist in doppelter Hinsicht mir nah. Von meinen acht Brüdern ist er der mir am nächst Geborene. Ich, die nach ihm Kommende,  Vaters langersehnte Tochter.


Sein Sterbeplan: Nonnen, in einem Heim am Zürichsee sollen ihn auf dem steilen Weg aus dem Leben in den Tod begleiten. Ungeduldig wartet er auf ein freies Zimmer. Ein Zimmer, indem er hungern, dürsten, enden will. Wird er dort verhungern, verdursten, verenden?


Sehnend sucht er die letztlich allen Menschen innewohnende Geborgenheit. Dieses Wort rollt sich wie eine grosse Matte vor mir aus. Facetten seiner Persönlichkeit zeigen sich mir in kleinen, belebten Bildern. Alle in ihrer Zeit mit dem gegebenen Umfeld. Sonderbar darin - der einsame Bruder.

Am Anfang seine Mutter, die ihn als sechstes Kind in die Welt gebiert. Es ist, als zöge sich die Nabelschnur durch Zeit und Raum hinter ihm her. Diese Blutschnur schlingt sich im Mutterleib um den Hals des Kindes. Arzt und Pfarrer werden gerufen.


Als kleiner, witziger Bub, eigenwillig, ulkig nimmt er mich im Heimatdorf Amden mit auf den täglichen Spaziergang. Stock, Köfferchen mit Gesangbuch, auf dem Kopf ein Unikat von Mütze sind dabei. Hoch über dem Walensee sitzen wir auf einer Bank und singen was die Herzen hergeben. Er sechs, ich vier Jahre klein. Abends dann das pralle Glück, wenn wir durch die winzigen Schiebfensterchen den Hirtenbub mit seiner Geissenschar heim ziehen sehen. Dutzende von Glöckchen bimmeln den Abend ein.

Die Schulzeit entzweit uns. Träumend, fantasierend, denkend, er alleine auf dem langen Schulweg. Ich, plaudernd und lachend mit meiner Nachbarsfreundin.

Grossen Ernst legt Hans beim Messlesen an den Tag. Er spielt Pfarrer mit Leidenschaft. Ein Bub aus der Nachbarschaft und ich dienen ihm kniend zu.

 

Mit einer vielfach geflickten schwarzen Kutte, von drei älteren Brüdern schon getragen, zieht er mit zwölf Jahren ins Gymnasium nach Einsiedeln. Sonntägliche Ausflüge an diesen Wallfahrtsort mit Hochamt, genüssliches Essen im Bären oder mit dem Abt im Fürstensaal, reihen sich durch die Jahre. Für meinen Vater entwickelt sich Hans zu einem gescheiten, ihm etwas fremden Sohn.

Noch während seines Kunstgeschichts- und Literaturstudiums ist er Lehrer an einem Gymnasium. Seine ureigene Pädagogik lässt ihn mit jedem Schüler jeden Aufsatz einzeln durcharbeiten. Sein unkonventionelles Sein, sein weites Wissen beflügelt viele seiner Studenten. Manche stehen nach Jahrzehnten an seinem Grab.

 

Er kauft sich mit 31 Jahren ein grosses, renovierungsbedürftiges, spottbilliges Landhaus. Er verspricht sich damit die Realisierung seines Traumes: Daran und darin mit Menschen zu arbeiten und zu leben. Die grosse Familie! Ein typisches Projekt der siebziger Jahre. Frauen und Männer kommen, arbeiten, essen, diskutieren und gehen wieder. Viele sind es, die seinen Traum am Leben erhalten. Im fertig erstellten Haus, mit zwei unabhängigen Wohnungen und dem verlockenden Garten bleibt jedoch Hans alleine zurück. Hoffen und Bangen lassen Jahre mit Gartenarbeit und kurzfristigen Arbeiten vergehen. Unsere Mutter war ihm auch als Gärtnerin Vorbild. Hier versorgt ihn nun Mutter Erde.


Unglücklich entscheidet er sich, das Haus wieder zu verkaufen. Das Haus, geprägt von meines Bruders Eigenart, lässt den Verkauf für Hans zu einer langen, ihn quälenden Aufgabe werden.

 

Mit 40 Jahren geht er in seine selbstgewählte Pension.

 

Eine mehrmonatige Süd- und Nordamerikareise vermag ihn wieder das Glücklichsein vernehmen. In einem Interview, das ich kurz vor seinem Tod mit ihm führe, sagt er: „Der Tag des Rückflugs von Peru und der Tag an dem ich den Hausverkauf beim Notar unterzeichnete waren die glücklichsten Tage meines Lebens.“

 

Im Zentrum von Luzern bezieht er zwei Atelierräume ohne sanitäre Installationen. WC im Hausgang! 15 Jahre haust er darin.

 

Zwei Jahre später wird ihm in einem Nachttraum der verlockende Weg nach einer kleinen, thailändischen Insel gezeigt. Er erhofft sich dort eine Bleibe. Er bucht den Flug und verreist. Doch im Bangkoker-Flughafen erfasst ihn das blanke Grauen. Ohne den Flughafen zu verlassen, fliegt er mit dem nächst möglichen Flug zurück nach Zürich. Die Heimreise bringt ihn an den Rand der Verzweiflung. Er sieht vor sich zwei sich liebende Menschen. Wissend, dass mein Bruder in Thailand ist, spüre ich trotzdem seine physische Nähe. Zwei Stunden später höre ich durch die Gegensprechanlage unserer Wohnung: „Hans“. Völlig erschöpft legt er sich bei uns hin. Ich bleibe neben ihm, da er mir den Eindruck gibt, er hänge nur noch an einem Faden an seiner Seele.

 

Eine Psychotherapie hilft ihm, den Boden wieder zu spüren. Er kauft sich einen VW-Bus, den er zum Wohnen einrichtet. Er bereist monatelang mit seiner kunst-geschichtlichen Neugier Spanien und Italien. Zurück, hat er das Glück einen grossen Garten bewirtschaften zu können. Aus dessen Boden zieht er seine Nahrung. Er schafft Essensvorrat für eine Grossfamilie. Seine Art der Aneignung verursacht Streit mit der Person, die ihm den Garten zur Verfügung stellte.

 

Seit dem Jahr 2000 leben mein Mann und ich in einem 10-Familienhaus, das von einem Garten umgeben ist. Hans teilt mit mir die Gartenarbeit. Im wahrsten Sinne des Wortes identifiziert er sich grenzenlos mit seiner Aufgabe. Er fühlt sich von mir nicht verstanden und zieht wütend, eifersüchtig und mit vielen, von ihm gesetzten Pflanzen, von dannen. Zur Dreiecksbeziehung Hans, mein Mann und ich meint er einmal: „Dies ist ein Gewebe, dem weder Thomas von Aquin, noch Immanuel Kant, noch Johann Wolfgang von Goethe gewachsen gewesen wären.“

 

Ein bisschen ungepflegt, selbstgeschnittenes Haar, meist in zarten Farben und mit Mutters Halstuch gekleidet, immer Zeit für eine gescheite Unterhaltung, sieht man Hans in den Strassen von Luzern. Ein inoffizielles Stadtoriginal!

Über Jahre ringt er mit dem Gedanken seine alte Mutter zu sich zu nehmen. Wie oft hörte ich diesen für ihn existentiellen Wunsch. In einem Haus am kleinen Stadtpark wird die 3-Zimmerwohnung unter dem Dach frei. Durch meine Vermittlung zieht er erlöst mit seiner Mutter dort ein. Vergnügt und euphorisch äussert sie am ersten Abend, sie möchte von Hans ein Kind und um die Nachbarschaft nicht zu brüskieren, möchte sie auch ganz bald heiraten. Unsere Mutter ist nicht dement. Sie ist nur sehr alt und willensmüde. Sie ist eine stolze Mutter von acht Söhnen und nebenbei einer Tochter. Sie hat das Patriarchat kraftvoll verinnerlicht. Jetzt finden ihre Trieblinge den schrankenfreien Weg aus ihrem für sie unbewussten Reich. Ich stehe im Schlagschatten meiner Mutter.


Ein Jahr später, mit 96 Jahren stirbt sie im Beisein von Hans. Kurz nach Mutters Tod lese ich in einem Brief von Hans an mich: „Immer wieder muss ich sinnieren, wie schön es für mich war, mit einem zweiten Zentrum ausserhalb von mir zu leben. Es war die Freude an jeder Freude der lieben alten Frau.“

Zurück zu unserem Mittagstisch. Das Gesprächsthema wechselt. Hans kommt in Fahrt, dank der Diskussion mit meinem Mann über Architektur. Beim Weggehen meint Hans: „Nach dem feinen Essen, dem guten Wein und der interessanten Unterhaltung könnte das Leben eigentlich weitergehen.“ Eine halbe Stunde später höre ich ihn nervös, verängstigt am Telefon. Er glaubt, die Nonnen hätten ihn vergessen. Ich empfehle ihm, sie anzurufen. Sie versprechen ihm ein Zimmer innert den nächsten zehn Tagen. Drei Tage danach schreibt die Heimleitung an Hans, dass sie leider die Verantwortung für die Sterbebegleitung nicht übernehmen können. Grau, zitternd klopft er an unsere Wohnungstür mit der Frage, ob er nicht bei uns sterben könne. Der Zufall will, dass die Mieterin unserer Einlegerwohnung mir vor kurzem die mündliche Kündigung mitteilte. Ich sage meinem Bruder, dass, wenn er noch ein paar Wochen warte, er in diese kleine Wohnung einziehen könne. Die eindringliche Stimme meiner Mutter flüstert mir zu: Du schaust dann zu Hans! Oh weh! Eine schlaflose Nacht folgt auf mein Angebot. Im gespenstigen Dunkel der Nacht bedrängt mich Hans mit Klopfen und Angstrufen, mit Weinen und Klagen. Diesen wachen Albtraum bemächtigt mich. Das Morgenlicht lässt mich erkennen, dass es nicht nur meinen Bruder gibt. Da gibt es auch noch mich. Ich melde morgens um 8 Uhr Hans meine Absage mit der Begründung, dass mich mein Angebot völlig überfordere. Hans scheint zu verstehen. Ich sage ihm auch, er solle sich an die Ärztin wenden, die ihm die Heimempfehlung gab. Umgehend kontaktiert sie die Luzerner Spitex und stellt dort die Frage, ob sie Hans im Fastensterben begleiten können. Sie nehmen sich 24 Stunden Bedenkzeit, da diese Aufgabe für Spitex Pilotcharakter hat. Spitex gibt einen Tag später an Hans einen Gesprächstermin. Er bittet mich ihn zu begleiten. Er fürchtet eine Absage. Wieder fahl und zitternd am ganzen Körper geht er an meinem Arm zur Verabredung. Die Zusage der Spitex erfolgt gleich zu Beginn des Gesprächs mit drei Auflagen: begleitender Hausarzt, private Begleitung rund um die Uhr und ein Spitalbett. Noch während diesem Gespräch platziert Hans erleichtert einen passenden Goethevers. Ich werde gefragt, wie es denn mir gehe. Ich sage, dass ich versuche mich in meinen Grenzen zu halten. Tränen begleiten diese Worte. Ich weine oft und unverhofft, weil mich das Sich-Entfernen aus der ungelösten Geschwisterbeziehung offensichtlich zu tiefst traurig macht.

Alles weist darauf hin, dass Hans in derselben Wohnung sterben wird wie seine Mutter. Sein Hausarzt gab für das Sterben im Heim mit einiger Zurückhaltung seine Unterschrift. Jetzt, nachdem Spitex mit ihm Kontakt aufnehmen will, ist er ohne Mitteilung an Hans, für zwei Wochen ferienabwesend. Ich fordere meinen Bruder auf: „Ruf den Arzt unserer Mutter an, und bitte ihn um seine Begleitung.“ Er aber meint, ich solle dies tun. „Komm wir trinken einen Tee und dann tust Du es, da es Deine Angelegenheit ist.“ Er hört dann die bejahende Antwort des Arztes. Gleich folgt die nächste Bitte von Hans an mich, ich solle eine gute Bekannte anrufen und ihr sagen, dass sie eine Liste zusammenstellen möge, mit möglichen Begleitern und Begleiterinnen. Hans muss diese Liste selber zusammenstellen und ihr dann auch selber anrufen. Diese Frau fällt aus allen Wolken und sagt zu Hans: „Du darfst nicht sterben, weisst Du denn nicht, dass Dich Menschen lieben, denkst Du nicht an sie?“ Trocken folgt ein kurzes Nein. Auch sie nimmt sich eine Bedenkzeit von einem Tag, stimmt dann trotzdem zu und organisiert innert Kürze dreizehn Menschen, die Hans in seinem Sterben begleiten werden. Hans hat weitere Verordnungen an mich, die ich ihm verweigere. Den Gemeindeleiter der Pfarrei zu bitten, er möge seine Beerdigung halten. Ein Mann, der Hans sehr beeindruckt, so, dass er vor wenigen Monaten wieder der katholischen Kirche beigetreten ist. Auch will er, dass ich seine Hausnachbarn nach seinem Tod über sein Weggehen informiere. „Hans, das tust Du selbst, magst Du noch durch die Stadt zu uns hinauf kommen, hast Du auch die Kraft für diese Mitteilungen.“ Er stimmt zu.

Am 10. Februar 2016 ist alles inszeniert. Sein Sterbewille kommt in die konkrete, aktive Phase.

 

Wieder ziehen Bilder und Worte von meinem Bruder durch meinen Kopf. Ich sehe ihn, wie er im Militärdienst beim Hochsprung frisch und fröhlich unter der Latte durch-springt. Jedes sportliche Flair geht ihm ab. Kameraden halten ihm trotzdem die Treue. Ich sehe ihn alleine in den Bergen oder durch Felder und Wälder ziehen. Ich sehe wie er bei einem einsamen Bauerngehöft sich am Gartenzaun mit der Bäuerin intensiv unterhält. Wie er kurz danach mit ihr und ihrer Familie am Mittagstisch das Essen geniesst. Immer ist er der höfliche, interessante Wanderer. Ich höre seine Worte: „Es lastet wie verrückt auf mir, dass ich bis in die innersten Schichten meiner Seele dressiert bin.“ Auch meint er mit einem nicht überhörbaren Stolz: „Ich erlebe mich aus einer Mischung von Mönchstum und Mütterlichkeit.“

Sein Jetzt-Wille ist messerscharf, wetzend und verletzend. Er schmerzt mich und lässt mich fernbleiben von der Begleitung. Ich brauche die Freiheit, um bei ihm täglich ein und aus zu gehen. Seine provozierenden Bemerkungen mir gegenüber, wie: „Hast Du geglaubt, ich sei schon tot“, lassen mich nur kurz bei ihm sein.

 

Die Meditation gibt mir Ruhe und die nötige Distanz zum Geschehen und zugleich die Kraft Da zu sein. Den Respekt gegenüber seinem Willen so zu sterben und meine eigene Haltung zu bewahren, verzehrt unglaublich viel Energie. Wirklich zu spüren bekomme ich dies erst nach seinem Tod.

 

Die ersten Tage macht er mit seinen Begleitern und Begleiterinnen Spaziergänge an den See. Dann ist er wieder der redselige, unterhaltsame Entertainer, aufrecht sitzend in seinem Bett. Am siebten Tag verlangt er die zwei Bier-dosen, die er im Kühlschrank weiss. Er bekommt das Bier, trinkt es und verfällt unverzüglich in Euphorie. Er schmiedet Pläne fürs Weiterleben und verordnet die dazu nötigen Unternehmungen. Am Abend ruft mich die Bekannte an, die von ihm die Aufträge erhielt. Sie ist irritiert und bittet um Rat. Ich sage ihr, dass sie nichts unternehmen solle, dass ich mich der Sache annehmen werde. So spreche ich gleich anschliessend mit meinem jüngeren Bruder, der noch spät am selben Abend zu Hans geht, mit ihm Klartext spricht: „Hans, niemand will, dass Du stirbst. Wenn Du sterben willst, dann darfst Du weder essen noch trinken. Wenn Du nicht sterben willst, steh auf und entlasse die Spitex, den Arzt und all die Menschen, die zu Dir schauen.“ Seine Antwort: „Ich will sterben.“ Von nun an darf nur mehr tropfenweise Wasser gegeben werden und seine Lippen sind zu befeuchten.  Am elften Tag kommt die Wende. Der Körper, trotz seiner Erschöpfung übernimmt die Führung. Dem Willen wird die Energie entzogen.

Hans klagt: „Nie hätte ich geglaubt, dass die Müdigkeit so schmerzen kann.“ Der Arzt hilft, diese Schmerzen erträglich zu halten. Der Schlaf und die eintretende Agonie bringen Ruhe in den Raum. Es wird still. Vom Park her schauen die grossen, laublosen Ulmen traurig durch die Fenster auf den Sterbenden. Am dreizehnten Tag um 17 Uhr, im Beisein einer Hausnachbarin haucht Hans den letzten Atem aus. Tief beeindruckt höre ich sie sagen: „Bis anhin war dies ein vielgehörter Spruch, jetzt ist es für mich eine unvergessliche Erfahrung.“

 

Kurz danach treffen die Spitexfrau, mein Bruder, meine Schwägerin, mein Mann und ich in die Totenstille ein. Notwendiges wird verrichtet. Liebevoll sorgt sich die Pflegerin um den toten Bruder. Die zwei Männer holen den Sarg aus der Diele, den Hans vor zwanzig Jahren zimmern liess. Auf einer seiner unzähligen Wanderungen kommt er mit einem Zimmermann ins Gespräch und bestellt gleich zwei Särge aus Tannenholz, einen für seine Mutter und einen für sich. Die Masse schickt er nach. Die Holzkisten wurden geliefert und in den Keller versorgt. Nach dem Tod der Mutter stellt er seinen Sarg in seine Wohnung. 16 Jahre steht er im Wohnungsgang. Jetzt wird er für Hans geöffnet. Darin die Notiz die sagt, man möge ihm die beiliegenden Kleider anziehen und die im Sarg befindlichen Kissen und Tücher seiner Mutter darin belassen. Hans sich selber treu in der Sparsamkeit, hat seinen Sarg zu kurz bemessen. Hier verwischen sich die Grenzen zwischen Sparen und Geizen. Mit Kraft und Sorgfalt werden seine Füsse über die Sargkante gestossen. Die Komik übernimmt für einen Moment das Zepter. Erlösendes Lachen, das dann wie kleine hüpfende Bällchen nach und nach verstummt. Vor uns der tote Hans. Für sein Grab wünschte er sich ein Tierlibaum.

 

Es ist anfangs Mai 2018. Das Bäumchen blüht.


Nachtrag

Mit einer lieben Person räume ich während dreier Monate den Hausrat meines toten Bruders. Damit entspreche ich seinem Wunsch. Meine tägliche Arbeit von ein bis zwei Stunden sind Teil des Trauerns. Ganz im Sinn von Hans, bemühen wir uns so viel Hausrat wie möglich an Menschen zu geben, die diese Dinge gerne weiterverwenden. Wir freuen uns über dieses Gelingen.

 

Beim Öffnen all seiner Schubladen, Dosen, Büchsen, Taschen und Schachteln ist es mir als suche ich mir Zutritt zu seinem Innern. Zu Hauf Stoffe aus Mutters Nähstube und Dinge, die es zum Nähen und Flicken braucht, alles mehr-fach, Haarspangen, Schals, Regenschirme, ein Dutzend Nagelklipser, alle Formen von Büroklammern und Vieles Vieles mehr.

 

Seine Aussenwelt waren Pflanzen, deren Strukturen er minutiös und systematisch gezeichnet und beschrieben hat. Es waren barocke Kirchen mit ihren Türmen und Ältären, fotografisch von ihm festgehalten. Es waren Häuser, das Trautheim in Adligenswil, indem er geboren wurde. Das von Vater erbaute grosse Haus in Meggen, in das wir 1950 einzogen. Die majestätische Vordere Ächern in Amden, wo wir lange Sommer verbrachten. Es war auch sein Traumhaus in Kleinwangen. Durchwanderte Landschaften gehörten zu ihm, wie Johann Wolfgang von Goethe, Gottfried Keller und Ortega y Gasset, deren Texte er auswendig, wahlweise zu jeder Situation in seine Verfügung nahm. Damit langweilte, nervte und faszinierte Hans viele Menschen.

 

Neid empfand ich für sein weites Bildungswissen.

Leid empfand ich für sein Schicksal.


Burg Mugglin-Gmür

Luzern, Dezember 2018