Noch während seines Kunstgeschichts- und Literaturstudiums ist er Lehrer an einem Gymnasium. Seine ureigene Pädagogik lässt ihn mit jedem Schüler jeden Aufsatz einzeln durcharbeiten. Sein unkonventionelles Sein, sein weites Wissen beflügelt viele seiner Studenten. Manche stehen nach Jahrzehnten an seinem Grab.
Er kauft sich mit 31 Jahren ein grosses, renovierungsbedürftiges, spottbilliges Landhaus. Er verspricht sich damit die Realisierung seines Traumes: Daran und darin mit Menschen zu arbeiten und zu leben. Die grosse Familie! Ein typisches Projekt der siebziger Jahre. Frauen und Männer kommen, arbeiten, essen, diskutieren und gehen wieder. Viele sind es, die seinen Traum am Leben erhalten. Im fertig erstellten Haus, mit zwei unabhängigen Wohnungen und dem verlockenden Garten bleibt jedoch Hans alleine zurück. Hoffen und Bangen lassen Jahre mit Gartenarbeit und kurzfristigen Arbeiten vergehen. Unsere Mutter war ihm auch als Gärtnerin Vorbild. Hier versorgt ihn nun Mutter Erde.
Unglücklich entscheidet er sich, das Haus wieder zu verkaufen. Das Haus, geprägt von meines Bruders Eigenart, lässt den Verkauf für Hans zu einer langen, ihn quälenden Aufgabe werden.
Mit 40 Jahren geht er in seine selbstgewählte Pension.
Eine mehrmonatige Süd- und Nordamerikareise vermag ihn wieder das Glücklichsein vernehmen. In einem Interview, das ich kurz vor seinem Tod mit ihm führe, sagt er: „Der Tag des Rückflugs von Peru und der Tag an dem ich den Hausverkauf beim Notar unterzeichnete waren die glücklichsten Tage meines Lebens.“
Im Zentrum von Luzern bezieht er zwei Atelierräume ohne sanitäre Installationen. WC im Hausgang! 15 Jahre haust er darin.
Zwei Jahre später wird ihm in einem Nachttraum der verlockende Weg nach einer kleinen, thailändischen Insel gezeigt. Er erhofft sich dort eine Bleibe. Er bucht den Flug und verreist. Doch im Bangkoker-Flughafen erfasst ihn das blanke Grauen. Ohne den Flughafen zu verlassen, fliegt er mit dem nächst möglichen Flug zurück nach Zürich. Die Heimreise bringt ihn an den Rand der Verzweiflung. Er sieht vor sich zwei sich liebende Menschen. Wissend, dass mein Bruder in Thailand ist, spüre ich trotzdem seine physische Nähe. Zwei Stunden später höre ich durch die Gegensprechanlage unserer Wohnung: „Hans“. Völlig erschöpft legt er sich bei uns hin. Ich bleibe neben ihm, da er mir den Eindruck gibt, er hänge nur noch an einem Faden an seiner Seele.
Eine Psychotherapie hilft ihm, den Boden wieder zu spüren. Er kauft sich einen VW-Bus, den er zum Wohnen einrichtet. Er bereist monatelang mit seiner kunst-geschichtlichen Neugier Spanien und Italien. Zurück, hat er das Glück einen grossen Garten bewirtschaften zu können. Aus dessen Boden zieht er seine Nahrung. Er schafft Essensvorrat für eine Grossfamilie. Seine Art der Aneignung verursacht Streit mit der Person, die ihm den Garten zur Verfügung stellte.
Seit dem Jahr 2000 leben mein Mann und ich in einem 10-Familienhaus, das von einem Garten umgeben ist. Hans teilt mit mir die Gartenarbeit. Im wahrsten Sinne des Wortes identifiziert er sich grenzenlos mit seiner Aufgabe. Er fühlt sich von mir nicht verstanden und zieht wütend, eifersüchtig und mit vielen, von ihm gesetzten Pflanzen, von dannen. Zur Dreiecksbeziehung Hans, mein Mann und ich meint er einmal: „Dies ist ein Gewebe, dem weder Thomas von Aquin, noch Immanuel Kant, noch Johann Wolfgang von Goethe gewachsen gewesen wären.“
Ein bisschen ungepflegt, selbstgeschnittenes Haar, meist in zarten Farben und mit Mutters Halstuch gekleidet, immer Zeit für eine gescheite Unterhaltung, sieht man Hans in den Strassen von Luzern. Ein inoffizielles Stadtoriginal!